18.12.2015

In die Tiefe





ORCAS - YEARLING


Vor drei Jahren schaffte es das unter dem Projektnamen Orcas veröffentlichte Debut von Thomas Meluch aka Benoît Pioulard und Rafael Anton Irrisari bis auf Platz 4 meiner Jahresbestenliste - ein verbritzelt-verträumter Ambient-Pop mit einer Stimme, die entfernt Erinnerungen an die Shoegaze, Pop und Postpunk Helden der 80er und frühen 90er Jahre ins Gedächtnis zauberte und musikalisch große Melodieentwürfe fast schon klaustrophobischen Intimitäten zur Seite stellte. 2014 erschien "Yearling", und unter normalen Umständen hätte ich mir die Platte ganz bestimmt bereits wenige Tage nach der Veröffentlichung ins Regal genagelt - aber offenbar waren die Umstände nicht normal. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich glaube, "Yearling" machte mich nach den ersten Höreindrücken nicht sonderlich wuschig. Vielleicht ist mir aber auch nur wieder im Moment des Testhörens eine Laus über die Leber gelaufen. Oder ich hatte kurz zuvor einen Tweet von Erika Steinbach gelesen und der Tag war damit sowieso schon im Totalarsch. 

Durch den sehr ergiebigen Winter Sale beim Berliner Mailorder A Number Of Small Things, wurde ich wieder auf "Yearling" aufmerksam, riskierte zur Sicherheit nochmal ein Öhrchen - und war umgehend verzückt. Werde ich nun doch wirklich alt?

"Yearling" zeigt sich im Vergleich zum Debut leicht verändert. Das Duo holte sich zum einen partielle externe Unterstützung von Efterklang's Martyn Heyne (Gitarre und Piano) und Telekinesis' Michael Lerner (Schlagzeug), zum anderen haben die beiden Köpfe Meluch und Irrisari die Extreme breiter ausgerollt: Die Pop-Arrangements sind im Sinne "Spirit Of Eden"'scher Talk Talk klarer strukturiert, die Melodien eingängiger und selbstbewusster. Herausragend in dieser Hinsicht sind beispielsweise "Half Light" und "An Absolute", in deren Harmonien man sich bei aller Cheesiness bis zum Haaransatz eingraben möchte. Die turmhohen Ambient-Eisbrecher Irrisaris hingegen sind konzentrierter und wirken ernsthafter, relevanter als auf dem Debut. Alleine das fast neunminütige "Tell" setzt als offiziellen Abschluss ein dickes Ausrufezeichen hinter seine Arbeit auf "Yearling", und die beiden Bonustracks "Flutter" und "Point Sur" existieren nur, um mir damit Recht zu geben.

Ich weiß nicht, was letztes Jahr genau mit mir los war - oder, um es herumzudrehen: was jetzt mit mir los ist. Vielleicht ist's die vorweihnachtliche Besinnlichkeit und die damit verbundene Aussicht auf ein paar ruhige Tage mit angezogener Handbremse, um dem Stress, der so ein Jobwechsel mit sich bringt, zu entkommen. Ich weiß jetzt schon, dass "Yearling" sich in dieser Zeit oft auf dem Plattenteller drehen wird. 

Homeoffice kann kommen.







Erschienen auf Morr Music, 2014. 

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