27.06.2016

Let the lead flow!

Wo wir gerade im letzten Artikel zu Blair Frenchs "Through The Blinds"-Album - rein virtuell, versteht sich - so "schön" über Detroit, beziehungsweise das, was von der Stadt übrig geblieben ist, "sprachen", macht es "vielleicht" "Sinn", einen der größten Skandale der jüngeren US-Geschichte zu beleuchten, der zwar nur am Rande mit Detroit in Verbindung steht, dafür aber das nahegelegene Städtchen Flint, beziehungsweise seine Politiker und Einwohner, in den Mittelpunkt rückt.

"Beleuchten" ist hier ganz vielleicht nicht wirklich das Wort der Wahl, das möchte ich nämlich der Fernsehmoderatorin Rachel Maddow überlassen, die das Thema in einer knapp 25-minütigen Reportage für die Zuschauer sehr eindrücklich aufbereitete. Ich schätze Maddow und die Art ihres Vortrags sehr, nicht nur in diesem Fall, sondern auch darüber hinaus: ihre Sendung auf MSNBC, dem zart linksliberalen medialen Gegenspieler der rechtskonservativen Furzknoten von Fox News, bietet viele Hintergrundinformationen, die mit Witz und Charme und meistens mit eindeutigem Tenor in der Decouvrierung homophober, rassistischer, korrupter, religiöser Sackgesichter geliefert werden. Sowas geht mir natürlich runter wie Öl (10W-40). Maddow ist wie einige ihrer Kollegen (beispielsweise der fanatische und fantastische Keith Olberman) bereits seit vielen Jahren im Fadenkreuz rechter Journalisten, Politiker und Bürger der USA, was sie gerne von Zeit zu Zeit aufgreift und mit einer guten Portion Selbstironie kommentiert.

Im angesprochenen Fall geht es um die im Jahr 2015 öffentlich gewordene Wasserkrise der 100.000 Einwohner-Stadt Flint in Michigan, einer fassungslos machenden Geschichte aus Korruption und Lügen, die außerdem den Zustand der US-amerikanischen Politik und einer sich im Auflösungsprozess befindlichen Gesellschaft auf schockierende Weise illustriert. Über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren wurde das Trinkwasser für die überwiegend (57%) Afro-Amerikanische Bevölkerung mit Blei kontaminiert, was zu einem imposanten Anstieg der Bleikonzentration im Blut der Bevölkerung, insbesondere im Blut von Kindern führte.

After Flint changed its water source from treated Detroit Water and Sewerage Department water (which was sourced from Lake Huron as well as the Detroit River) to the Flint River (to which officials had failed to apply corrosion inhibitors), its drinking water had a series of problems that culminated with lead contamination, creating a serious public health danger. The corrosive Flint River water caused lead from aging pipes to leach into the water supply, causing extremely elevated levels of the heavy metal. In Flint, between 6,000 and 12,000 children have been exposed to drinking water with high levels of lead and they may experience a range of serious health problems. Due to the change in water source, the percentage of Flint children with elevated blood-lead levels may have risen from about 2.5% in 2013 to as much as 5% in 2015.

On January 5, 2016, the city was declared to be in a state of emergency by the Governor of Michigan, Rick Snyder, before President Barack Obama declared it as a federal state of emergency.

Der komplette Artikel bei Wikipedia


Der in Flint geborene Regissuer Michael Moore fand in der wöchentlichen Talkshow "Real Time With Bill Maher" die gewohnt klaren Worte:

"And I think that's a crime; they did it because it's a black city, it's a poor city, they wouldn't do this to Bloomfield Hills or Ann Arbor or Grosse Pointe."


Und jetzt, wie versprochen - Rachel Maddow:





25.06.2016

Detroit got stupid, it was time to blow




BLAIR FRENCH - THROUGH THE BLINDS



Ich habe eine Vorliebe für diese kleinen, leisen, zaghaft funkelnden Platten, die unter jedem Radar laufen. Die kosten dann ganz nebenbei auch nicht viel. Ist komisch, aber sowas gibt's tatsächlich noch: Ein Vinylalbum für dreizehnneunzich mit primagutem Artwork und primaguter Pressung, außerdem in der Rubrik: "Platten nach Cover kaufen". Aber lasst uns alle mal lieber die limitierte 7-LP Box von Creedence Clearwater Revival für 110 Euro heim ins Reich holen. Ist besser für uns alle. Vor allem aber für Creedence Clearwater Revival.

Blair French aka Dial.081 ist ein experimenteller Ambient und Technoproduzent aus Detroit, dessen vor vier Jahren erschienener Soundtrack zum Film "Detropia", einer Dokumentation über 

"the decline of the economy of Detroit due to long-term changes in the automobile industry, and the effects that the decline has had on the city's residents and infrastructure"

den Cinema Eye Honors Award für den besten Soundtrack des 2012 einheimsen konnte.





Der Trailer:





"Through The Blinds" ist in Blair Frenchs Worten das Ergebnis der Entwicklung einer langen Hip Hop-Karriere zur Ambientmusik. Von Hip Hop ist folgerichtig dann auch nichts mehr zu hören, dafür gibt es herbstlich knirschendes Eislaub, dezente Kälte, ein bisschen Nebel und neoklassisches Pianogetupfe. Bis hierhin ist das nicht über Gebühr aufregend zu lesen, je sais, mais: da gibt es ja noch das Besondere auf "Through The Blinds"; das, was sich versteckt, sich vergräbt - und selbst meine Wenigkeit hat es erst ziemlich spät gemerkt. Es ist die Anziehungskraft dieser Musik. Die sich durch den sandigen, etwas angegrauten Noiseteppich durchwürmelnden Melodien sind betörend, und wenn ich unbedingt ein Bild davon zeichnen wollte, wie sich das anfühlt, wenn sich so ein hellblaues, cremiges Licht durch das trübe Dickicht bricht: wie die Lieblingskuscheldecke am Weihnachtsabend. 

Im Prinzip ist "Through The Blinds" nur für mich (und für Dich, natürlich!) gemacht worden, weil sich alles so nah, vertraut und heimisch anfühlt. Das Ergebnis: nach zehn Tagen Dauerrotation für Melanie De Biasios "Blackened Cities" gab es zehn Tage Dauerrotation für "Through The Blinds" - durchaus begünstigt von dem, was man früher "Wetter" nannte. Bei 14° Grad, Nieselregen und einem viertel Orkan Mitte Juni lässt man sich lieber den heißen Kakao durch die Unnerbüx' laufen, als die Cocktailschirmchen rauszuholen.

Kein Aufschrei, kein Blitzlichtgewitter, kein Hype - mehr down to earth als "Through The Blinds" geht fast nicht. Ein Ambientwerk für die intellektuelle Arbeiterklasse. Was inhaltlich freilich ein Quadratscheiß ist, aber es liest sich gut. Musikjournalismus 2016, you're welcome. 






Erschienen auf Delsin Records, 2016.


23.06.2016

Asche




MELANIE DE BIASIO - BLACKENED CITIES


Die Dunkelheit flüchtet. 

Einsamkeit und Tristesse im grobkörnigen Sepiafilter, dazu aufsteigender Rauch aus Industrieschornsteinen (und Starbucks-Kaffeebechern). Bedrückend, mächtig, einschüchternd. Entmenschlicht und grotesk. 

Urbanität im Zeichen des Zerfalls von sozialen Strukturen, die sich über Abschottung und Ausgrenzung längst neu definiert haben, um für den gesellschaftlichen Endkampf Kraft zu tanken. Dazu steht der Angst-Altar in jeder Kirche und jedem Kinderzimmer. Die Gier macht's. Der Neid macht's. Die Furcht macht's: Nasen aneinanderschlagen, Ellenbogen raus, kalte Blicke, kalte Worte. Und eiskalte Taten. Auf der Lauer liegen und auf den richtigen Moment warten. 

Und doch entstehen in jedem schwarzen Klumpen Momente aus purer Schönheit, Liebe und Freundschaft. Mag es eine Erinnerung sein, ein Geschmack, ein Duft - vielleicht nur eine Ahnung, ein Reflex. Da muss doch mehr sein? Da muss es doch mehr geben? 

If you feel a breeze it might be me
I might pass this way to set you free

Überall gibt es Sehnsucht. 

Und die Dunkelheit flüchtet nicht, sie wird verdrängt. 






Erschienen auf Pias, 2016.


18.06.2016

ARE YOU PREPARED FOR THE VIOLENCE?




Hallo Fremder. Du kannst es nicht wissen, deswegen sage ich es Dir. Beziehungsweise: schreibe es in mein virtuelles Wohnzimmer. Nochmal. Und ich schreib's von mir aus ab jetzt einmal monatlich hier rein. Macht mir nix. Gar nix.




Die New Yorker Thrash Metal Legende mit den zwei Klassikern "Tortured Existence" und eben "Epidemic Of Violence", sowie einer zu Unrecht völlig verkannten "Time Bomb"-LP aus dem Jahr 1994 im Thrash-History-Rucksack, hat sich im Frühling dieses Jahres tatsächlich nach über 20 Jahren Sendepause in beinahe jenem Lineup reformiert, das auch die erwähnten ersten beiden Alben einspielte. Beinahe deshalb, weil Schlagzeuger Vinnie Daze 1996 an den Folgen einer Vergiftung starb und also nur schwer verfügbar war.

Ende Mai 2016 betrat das Quartett beim Maryland Death Fest in den USA erstmals seit der Reunion wieder eine Bühne, Sänger und Bassist Steve "Giftzwerg" Reynolds eröffnete das knapp einstündige Set mit den Worten "ARE YOU PREPARED FOR THE VIOLENCE?", und die Truppe hinterließ verbrannte Erde: "Skull Fracturing Nightmare", "Neanderthal", "44 Caliber Brain Surgery", "Human Dissection", "Envenomed", "Infectious Hospital Waste" - Klassiker reihte sich an Klassiker. Dabei zeigt sich die Kapelle in guter Form und hat zu meiner großen Überraschung fast nichts von der alten Durchschlagskraft eingebüßt: tight, räudig, maximal angepisst und in "wahnsinniger Geschwindigkeit" (Lord Helmchen) wirklich alles humorlos wegholzend. 

Ich darf an dieser Stelle auch hocherregt und untererotisch feststellen: Wenn die alten Knacker es irgendwann und irgendwie nach Deutschland schaffen sollten, eskaliere ich. 

Am heutigen Freitag sowie am morgigen Samstag spielt die Band übrigens in der St.Vitus Bar in Brooklyn zwei seit langem ausverkaufte Shows - der heutige Gig war nach drei Minuten (!) ausverkauft.




Anbei zwei Clips des weiter oben erwähnten Konzerts vom 29.5.2016. Zunächst der Opener "Skull Fracturing Nightmare", darunter folgt das übrige, vollständige Konzert. Enjoy. Und bevor mich tatsächlich jemand fragt: Ja, ich habe alles angeschaut. Komplett. Mehrmals. Ihr geilen Schweinchen.







14.06.2016

I lost my Plattenladen in Heidelberg (II)




EIN RUNDGANG DURCH DIE VINYLGEMEINDE



Mit Blitz und Donner in Herz, Hirn und Hose machte ich mich auf den Weg in die Kettengasse, wo The Record Store zu finden sein sollte. Ich kann mich an diese Station aus dem Jahr 2009 noch gut erinnern: der Laden hatte seine Türen seit 2005 geöffnet, der Besitzer war sympathisch und die Auswahl war grandios - so hielt ich beispielsweise "Ptah, The El-Daoud" von Alice Coltrane in der Erstpressung von 1970 in den Händen und entschied mich angesichts der aufgerufenen 40 Euro (natürlich) dagegen. Ich Vollarsch.

Im Jahr 2016 war davon nichts mehr zu sehen, im Wortsinn: The Record Store existiert nicht mehr. Zwischen einem veganen Café und einem Nagelmassagen-Shop gibt es keinen Platz mehr für Schallplatten - zumindest nicht in Heidelberg. 2011 zog der Record Store um und hat nun in Freiburg seine Heimat gefunden.




Um die Ecke geht es zum Pannonica in der Ingrimstraße 22, einem kleinen und wunderschön in den kleinen Gassen der Altstadt gelegenen Café, in das man zwei Meter Schallplatten in die Mitte des ersten kleinen Raumes gestellt hat. So toll, schön, charmant und meinetwegen stylish das auch ist, aber ein Plattenladen ist das nicht. Ich fühle mich etwas deplatziert und ziemlich fremd, bestelle zur Beruhigung (...) einen Espresso, wühle mich durch das wirklich krude zusammengewürfelte Repertoire aus Kraut, Rock, Soul, Experimental, HipHop und allerlei avantgardistischem Zeug und bleibe tatsächlich für volle zwei Minuten bei Mickey Harts "Rolling Thunder" kleben und überlege mir einen Kauf (Ergebnis: negativ). Vorteil: den üblichen Flohmarktschrott gibt's hier nicht, und wer interessiert ist, kann die Scheiben auflegen und reinhören. Genau so wenig kann ich allerdings erkennen, ob die Auswahl wirklich bewusst kuratiert wurde, oder ob eine Granate in einem Plattenlager hochging, und die von der Detonation am weitesten weggeschleuderten Exemplare aufgesammelt und ins Pannonica gebracht wurden. In diesem Zusammenhang ist die Anmerkung wichtig und richtig, dass die überwiegende Mehrheit der Scheiben in einem überaus gepflegten Zustand ist. Anyway, die Bedienung war sehr freundlich und niedlich, und es war am Ende wie mit einem paar frischer Unterhosen: am Anfang kratzen sie immer ein bisschen, aber später will man gar nicht mehr raus. Würde ich dort wohnen, ich wäre wohl Stammgast.

Die letzte Station heißt Musikzimmer in der Untere Straße 10. Auf den ersten Blick macht der quadratische Laden hinsichtlich der Sortierung einen ganz guten Eindruck, und dass "To The 5 Boroughs" der Beastie Boys prominent in der Auslage präsentiert wird, allerdings zum gepfefferten Kurs von 89 Euro kann als Fingerzeig für das, was mich hier erwartet gewertet werden. Jedenfalls dachte ich das, aber auch hier holt mich die Realität ziemlich flott wieder ein: die Jazzauswahl ist noch ganz interessant, wenn auch quantitativ nicht gerade protzend, mit einigen schönen und selten anzutreffenden Stücken, die preislich dann aber auch wieder in diskussionswürdige Bereiche abdriften. Unter Punk und Indie finden sich einige Reissues von Refused, The Used oder auch Nirvana und ein bisschen Neuware, alles etwa zwischen 20 (kaum) und 25 Euro (häufiger) angesiedelt. Ich bekomme ein seltsames Zeitkapselgefühl und frage mich, ob die Heidelberger ex-Jugend von 2002 wirklich immer noch den ganzen alten Schrott kauft. Oder auch nur hört.

In den Neuheiten steht, pardon für die fehlende Differenzierung, nur alter Scheiß, im Hardrock/Metal Fach die üblichen Verdächtigen aus Doro, Bonfire und Whitesnake (Symbolbands). Unter "Rock/Pop A-Z" findet sich überaschenderweise "Rock/Pop von A-Z" und ich hätte jetzt noch gerne einen Espresso, weil mir schon bei "D" der Kopf auf eine Drönemeyer-Platte fällt. Oder war es erst bei "G"?

Zu meinem persönlichen Amüsemang stolpert ein Kunde in den Laden:"Ich habe gerade die Kraftwerk-LP im Schaufenster gesehen, die nehme ich bitte."

Fantastisch, es gibt noch Laufkundschaft! Doch, oh Schreck, er fängt das Diskutieren an!

"Ach so, das ist keine Originalpressung?" -"Nee. Die sind immer ziemlich schnell ausverkauft." -"Ahaaaa."

Bange Minuten des Abwägens vergehen, dann endlich:

"Ich nehm' sie."

Frankfurt-Sossenheim gratuliert.

Frankfurt-Sossenheim fährt anschließend mit durchgeweichten Schuhen, durchgeweichtem Hirn und platten Füßen zurück in die Mainmetropole. Mit gemischten Gefühlen. Ich hatte den Besuch vor sieben Jahren insgesamt positiver abgespeichert, aber vielleicht ist das auch nur einer romantischen Verklärung geschuldet. Die Zeiten für Plattenläden scheinen sich, zumal wenn sie ihre Zelte nicht gerade in urbanen Zentren wie Berlin, Köln, Stuttgart oder München aufgeschlagen haben, trotz des Vinyl Hypes nicht signifikant gebessert zu haben; nimmt man die Situation in Heidelberg als Maßstab, ist vermutlich eher das Gegenteil der Fall. Andererseits sollte nicht verschwiegen werden, dass mit dem Musikzimmer und dem Pannonica zwei neue Läden mit teils neuen Konzepten das Licht der Welt erblickten. Vielleicht liegt darin der Schlüssel für die Zukunft, um auf das veränderte Konsumverhalten von Musikhörern, dem demografischen Wandel innerhalb der Gesellschaft und die weiter voranschreitende Verästelung von Musikgenres, Künstlern, Formaten, Marketing, Marketing und vor allem: Marketing zu reagieren.

Die Zeiten ändern sich, die Welt ändert sich, die Menschen ändern sich. Warum sollte dann ausgerechnet das vor mehreren Jahrzehnten etablierte Konzept eines Plattenladens überleben?

Frage ich Sie!



12.06.2016

I lost my Plattenladen in Heidelberg (I)




EIN RUNDGANG DURCH DIE VINYLGEMEINDE


Der 39.Geburtstag wurde mit der Herzallerliebsten in den Plattenläden Heidelbergs nachgefeiert - lediglich ein vierstündiger Kurztrip, damit unsere fellnasigen Mitbewohner nicht zu lange alleine sind, aber viel länger muss man sich in der Studentenstadt auch nicht mehr aufhalten, wollen die letzten verbliebenen Musikhändler besucht werden. Freund und Blank When Zero-Schlagzeuger Simon und ich waren zuletzt 2009 vor Ort, also noch knapp vor dem großen Hype und der vielbeschworenen Rückkehr der Vinylschallplatte. Schon damals war das romantische Städtchen nicht unbedingt ein Vinyl-Mekka, andererseits ließe sich sagen, dass immerhin vier Läden in einer nicht unbedingt urban zu bezeichnenden und recht kleinen Großstadt nicht das schlechteste sind. Fühlen wir also anno 2016 mal den Puls. Sofern man ihn noch fühlen kann.

Um das Fazit vorwegzunehmen: es braucht schon etwas Fantasie. 




Wir beginnen um kurz vor 12 Uhr mittags bei Ronnie's Records (Bahnhofstraße 19) und stehen zunächst vor verschlossener Tür: Ronnie zieht wochentags erst um 12 Uhr die Rolläden hoch. Während die Herzallerliebste mich noch wegen meiner  vermeintlich schlechten Vorbereitung zärtlich und liebevoll beschimpft, biegt der Inhaber um kurz nach 12 mit seinem Auto in die Straße ein und sucht einen Parkplatz. Ich habe Ronnie's Records noch vom letzten Besuch vor sieben Jahren in ganz guter Erinnerung, allerdings ist das Lädchen wohl auf ewig mit einem strahlenden Ausbruch von Quadratblödheit des Autors verknüpft. Das dritte abendfüllende Werk der ehemaligen Drogenrockgötter von Monster Magnet "Dopes To Infinity" wurde mittlerweile zig Mal auf Vinyl wiederveröffentlicht, was dem Wert der 1995er Originalpressung jedoch fast nichts anhaben kann: noch immer bieten Verkäufer sie zu horrenden Preisen an und noch immer wird sie von Kunden zu ebenjenen horrenden Preisen gekauft. Im Jahr 2009 sah das alles noch deutlich anders aus. Von Reissues war weit und breit nichts zu sehen und der Preis für die Originalpressung lag bei läppischen 20 Euro. Ronnie's Records hatte "Dopes To Infinity" in ebenjener Erstpressung für 18 Euro ins Regal gewuchtet, und Herr Dreikommaviernull, damals wie heute großer Fan der Frühphase der Band bis eben einschließlich dieses Albums, entschied sich nach zähem Ringen schlussendlich gegen einen Kauf. Es war eben einfach zu teuer. Um es einzuordnen: 2009 lagen 18 Euro, natürlich exklusiv besonderer Raritäten und stattdessen das Standardprogramm betrachtend, schon im oberen Drittel der Preisgestaltung vieler Läden. 

Vor zwei Jahren kaufte ich schlussendlich "Dopes To Infinity" in einer ziemlich abgerissenen Version inklusive sehr deutlich ausgeprägten Katzenkrallenspuren am Cover aus - logisch! - Amsterdam für immerhin nur 34 Euro. Das war 2014 ein Schnäppchen. Wenn jemand wissen will, was in den vergangenen Jahren auf dem Schallplattenmarkt passiert ist: dieses Beispiel illustriert's ganz gut. 

Die Zeiten haben sich auch bei Ronnie geändert: um den Einbruch der Digitalverkäufe, also von CDs und DVDs, aufzufangen, musste die Preisschraube bei den Schallplatten auch hier stärker angezogen werden, aber ich fand bei meinem Besuch keinerlei Unverschämtheiten in den Regalen vor. Tatsächlich ließe ich mich dazu hinreißen, Ronnie's Records als einen der günstigeren Plattenläden zu bezeichnen. Das Sortiment im Vinylfach ist die Heidelberger Nummer 1 und neben den üblichen Verdächtigen, die sich in jeder Flohmarktkiste tummeln, lassen sich hier und da auch ausgefallenere Stücke finden. Ich entscheide mich für das Auffüllen der Journey-Sammlung ("Evolution" und "Greatest Hits") und für schwedischen Death Metal aus der Ursuppe der damaligen Bewegung: die Erstpressung von Unleashed's Klassiker "Where No Life Dwells" steht für sagenhaft günstige 21,90 Euro in der Metalabteilung und da kann ich das Portemonnaie wirklich nicht geschlossen halten. Für Metalfans darüber hinaus ganz interessant: ein großer Batzen Metal-Raritäten wartet aktuell auf neue Besitzer. Preislich sind die in Komission genommenen Scheiben teils jenseits von gut und böse, aber, und jetzt kommt's: praktisch ungespielt und in komplett neuwertigem Zustand. Im Anschluss plaudern wir noch etwas über die gegenwärtige Situation der Plattenläden in Heidelberg ("Die verkaufen mittlerweile wahrscheinlich mehr Postkarten und Schlüsselanhänger, um sich über Wasser zu halten."), fragwürdiges Konsumentenverhalten ("Journey?? Das hat hier über Jahrzehnte kein Mensch auch nur mit der Kneifzange angepackt!") und die klanglichen Unzulänglichkeiten neuer Vinylpressungen, letzteres endend in der Übereinkunft meiner schon desöfteren ungefragt mitgeteilten Einschätzung, dass der Großteil der heutigen Vinylkundschaft die Platten zwar kauft, sie dann aber ungehört ins Regal stellt und die Musik letzten Endes über Spotifuck oder Downloads in den Sessel furzen lässt. Wissenschaftlich und statistisch bestimmt schwer zu belegen, denn sowas würden ja auch nur komplette Vollidioten zugeben.


Weiter geht's zur Heidelberger Institution Crazy Diamond, einem seit 1991 existierenden Fachhandel für Tonträger mit ehemals gleich mehreren Filialen. Mittlerweile ist davon nur noch das Hauptquartier in der Poststraße übrig geblieben und auch hier musste man Federn lassen. Ich war jedenfalls über die heutige Größe irritiert. In meiner Erinnerung war der Crazy Diamond aus dem Jahr 2009 riesig und hatte eine wirklich gut gefüllte Vinylecke, die es sieben Jahre später ordentlich zusammengeschrumpelt hat: Drei Fächer mit Jazz-LPs, allerdings löblicherweise auch mit Neuerscheinungen, etwa fünf Meter A - Z Sortierung mit Indie, Mainstream, Pop und Rock-Neuware und Reissues und etwa nochmal so viele Meter in der unsortierten 2nd Hand- und Nice Price-Gruschelkiste, auf die man schon nach zwei Minuten des Durchblätterns keinen Bock mehr hat. Insgesamt wirkt das Vinylangebot durch die Platzierung in der letzten Ecke des Raumes etwas stiefmütterlich und lieblos, und die Tatsache, dass außer Herrn und Frau Dreikommaviernull in den knapp 30 Minuten Aufenthalt niemand sonst den Laden betrat, lässt mich am viel zitierten Hype ums schwarze Gold zweifeln. In Heidelberg ist er garantiert noch nicht angekommen. 

Und auch hier ein vorweg genommenes Fazit: er sollte sich auch bei den kommenden Stationen nicht zeigen.


Das Vinyl Only (Grabengasse 8) hatte ich dieses Mal gar nicht erst auf dem Zettel. Der wie der Crazy Diamond auch über die Grenzen Heidelbergs hinaus bekannte Laden machte schon 2009 mit Apothekenpreisen, unsympatischen Typen hinter dem Tresen, auffällig vielen Platten in auffällig schlechtem Zustand keinen guten Eindruck und scheint in erster Linie von seinem Namen und dem guten Ruf aus früheren Jahren zu leben. Da das Wetter allerdings innerhalb von wenigen Minuten von hochsommerlichen 30°C und Sonnenschein in Platzregen, Sturm, Blitz, Donner und Hagel umschwenkte, ich außerdem mit Stoffschuhen und kurzer Hose eher für einen Strandtag in Ibiza und nicht für eine nasskalte Schlammpfütze ausgestattet war, flüchtete ich in Richtung des Vinyl Only. Wenigstens trocken. Und wer weiß, vielleicht hat sich ja was verändert. Ein in die offene Eingangstür gestellter Postkartenständer versperrte mir indes den Weg und zwei dahinter sitzende junge Typen grinsten mich leicht dümmlich an und teilten mir um 14:17 Uhr mit, dass sie "neuerdings Siesta" hielten und erst um 16:30 Uhr wieder öffnen würden. "Tschüüühüüüüß!" 

Wie ich eben gesehen habe wird das Vinyl Only gemäß der Meldung auf Facebook von 9.Juni 2016 endgültig schließen. Wieder einer weniger.


Weiter geht's im zweiten und letzten Teil - Fortsetzung folgt.


11.06.2016

Roots Bloody Roots




TYRONE WASHINGTON - ROOTS


Aufmerksame Leser von Dreikommaviernull und jene mit einem guten Erinnerungsvermögen besinnen sich vielleicht noch an meine warmen Worte zur großartigen "BLACK FIRE! NEW SPIRITS!"-Zusammenstellung aus dem vergangenen Jahr und an den dort erwähnten Namen Tyrone Washington:

Das intensivste Stück von "Black Fire! New Spirits!" ist sicherlich "Universal Spiritual Revolt" von Tyrone Washington. Ein zunächst ausgelassen beginnender funky Jazztune, der urplötzlich in einen wilden Orkan mit Glocken, irrem Gebläse und "Freedom!, Freedom!" Geschrei umschlägt und am Ende wieder beschwingt in das Eingangsthema wechselt, als wäre nichts geschehen. "Universal Spiritual Revolt" hat eine unbändige Kraft, laut abgespielt kann man während dieser neun Minuten kaum stillsitzen. Washington nahm Ende 1967 sogar eine Platte für das Blue Note Label auf ("Natural Essence"), spielte Sessions mit Jackie McLean, Woody Shaw und Herbie Hancock - wenngleich die "Train Wreck Sessions" genannten Aufnahmen mit letztgenanntem nie offiziell veröffentlicht wurden - und verließ nach seiner letzten, 1974 erschienenen Platte "Do Right" und der Konvertierung zum Islam die Musikwelt.

Das erwähnte Blue Note-Album Washingtons "Natural Essence" habe ich mir mittlerweile auf Vinyl gegönnt: eine hochinteressante, weil vordergründig klassische Blue Note-Post Bop Jazzplatte der späten 1960er Jahr, die aber in der detaillierteren Auseinandersetzung mit einem ungewöhnlichen Twist in den Kompositionen überrascht. Von den beiden Nachfolgern "Roots" und "Do Right" ist bislang leider nur erstgenannte als wahrscheinlich unautorisierter Repress auf Vinyl wiederveröffentlicht worden, für den Schlusspunkt "Do Right" muss selbst für die 2006 erstmals erschienene CD schon etwas tiefer in die Tasche gegriffen werden. Für die Original-LP sollte man inklusive der Versandkosten nach Deutschland einen dreistelligen Betrag einplanen. Aber vielleicht kommt auch hier bald das Counterfeit.


In der Zwischenzeit ist nun auch immerhin der Counterfeit von "Roots" bei mir eingetroffen und liegt regelmäßig auf dem Plattenteller. Erschienen 1973 auf Perception Records, einem obskuren und mysteriösen Label, das nur für etwa fünf Jahre bestand und praktisch nichts für die Nachwelt hinterließ. DJ Spinna wird im Zuge seiner Perception-Retrospektive (siehe Mixcloud Link weiter unten) wie folgt zitiert:

“There’s no tapes, no multi-tracks or masters. Everything on the compilation for the most part came off of records, so something happened somewhere."





Washington war schon zu Blue Note Zeiten ein kritischer Geist. In den Liner Notes zu "Natural Essence" ist folgender Abschnitt zu finden, wohlgemerkt aus dem Jahr 1968:

“Man has lost himself in technological and materialistic creation. We can offer music as a new currency in a sense, and if man can dig that, then he might be able to save himself from suicidal mass destruction.”


Die Liner Notes von "Roots" sucht man dagegen vergebens. Stattdessen gibt es nur folgende zwei Sätze zu lesen:

“Liner notes on this album are totally unnecessary. Tyrone Washington is incredible.”


Die letzte bekannte Aufnahme Washington ist auf dem Roswell Rudd Album "Blown Bone" zu hören, aufgenommen im März 1976 und erschienen im gleichen Jahr auf Philips Records. Bob Washington, der in einer Kundenrezension (!) auf der Übersee-Seite von Amazon (!!) angibt, Tyrones Bruder zu sein, sagt, dass der Tenorsaxofonist mit den großen Karrierechancen sich 1976 komplett aus der Musikszene zurückzog und seinen Namen in Bialar Mohammed änderte, um seitdem seine religiösen Überzeugungen in Newark, New Jersey zu verbreiten. Weiterführende Informationen zu seinem Verbleib sind rar, um nicht zu sagen: nicht existent.

"Roots" ist auf mehreren Ebenen ein überaus interessantes, zwischen Post Bop, zarten Free Jazz Ausläufern im möglicherweise prophetischen Abräumer "1980",  Frühsiebziger-Soul und unausgesprochenen politischen Statements hin und her pendelndes Album. Der Einstieg mit der Coverversion von Stevie Wonders "You Are The Sunshine Of My Life" gerät noch beschwingt. Aber der Schein trügt, denn schon mit dem folgenden "Spiritual Light of the Universe" segelt das Quartett mit dem Bassisten Stafford James, Schlagzeuger Clifford Barconadhii und Pianist Hubert Eaves in abseitigeren Gewässern: melodisch abgedunkelt und ein verzwicktes und ungewöhnliches Arrangement, das schon nach fünf Minuten den Kreis wieder schließt und zum Ende kommt. 

Das vielleicht bekannteste Stück Washingtons ist "Submission". Der die A-Seite von "Roots" abschließende Tune wurde mehrfach von Hip Hop Acts gesampelt, unter anderen von Ikone Madlib - damals noch unter seinem Alter Ego Quasimoto - im Jahr 2000 für sein "Return of the Loop Digga" oder auch von A Tribe Called Quest für "Can I Kick It? (Spirit Mix)".




Wer also in die Arbeiten einer der mysteriösesten Musiker der 1960er und 1970er Jahre hineinschnuppern will - ein musikalisch hochinteressantes, nach dem Aufkauf von Liberty entstandenes Blue Note Album mit gleichfalls attraktiver Besetzung ("Natural Essence"), ein vergessenes Album auf einem obskuren Jazz/Rock-Label von 1973 ("Roots") und ein letztes Werk mit künstlerischem Befreiungsschlag ("Do Right") sowie dem selbst gewählten Abtauchen ins religiöse Nirwana - ist mit Tyrone Washington bestens bedient. 




Und hier die "Natural Essence"-LP in voller Länge:




Erschienen auf Perception Records, 1973.


04.06.2016

Alte Liebe




MINUS THE BEAR - LOST LOVES


"Der Buchhalter des Rock'n'Roll" (Frau Dreikommaviernull über Herrn Dreikommaviernull) schlägt wieder zu: Meine weltbesten Weltbestleser haben in den Texten des vor zwei Monate abgeschlossenen "Top 20 2015"-Countdowns möglicherweise entziffert, dass der Radio/Scrobble/Musikentdeckungsdienst Last.Fm im Rahmen des letztjährig durchgeführten Relaunches neue Statistiken einführte; so zum Beispiel die Darstellung über die meistgehörten Alben. Über die Top 4 dieser Liste habe ich bereits geschrieben: Oddisees "The Good Fight", Lee Reeds "The Butcher, The Banker, The Bitumen Tanker", George Fitzgeralds "Fading Love" und "Stillpoint" von Purl, allesamt Alben aus dem Jahr 2015. 

Über den fünften Platz der Last.Fm-Liste habe ich noch nicht geschrieben, und ich verdanke es letzten Endes Herrn K. aus S., dass ich die dazu passende Platte überhaupt hörte. Und deren fünfter Platz kommt auch nicht von ungefähr. 

Minus The Bear sind ein Phänomen. Seit 2005 gehört die Truppe aus Seattle zu den wichtigsten Bands in meinem Leben. "Menos El Oso" (2005) und "Omni" (2012) kann ich praktisch auswendig mitsingen, und ich halte auch gerne und außerdem mühelos jeder Diskussion stand, die Band habe noch kein auch nur durchschnittliches Album veröffentlicht, wenn man vielleicht von den ersten noch etwas unausgegorenen EPs "This Is What I Know About Being Gigantic" und "Bands Like It When You Yell "Yar!"" absieht. Aber das waren ja auch keine Alben. Wink-Wink. 

Trotzdem, oder besser: ganz besonders deswegen schrecke ich oft zurück, wenn die Truppe eine neue Platte ankündigt, wofür ich oft nur großes Unverständnis ernte. Dabei ist die Erklärung dafür vielleicht gar nicht so schwer. Ich habe die Hosen voll. Ich will einfach nicht enttäuscht werden. Ich will, dass ich mir auch in 30 Jahren beim Anhören des dann 127. Minus The Bear-Albums noch denke, dass das manchmal, in gewissen Lebenssituationen und auch darüber hinaus, die beste Musik der Welt ist, erdacht und gespielt von der vielleicht besten Band der Welt. Und ich weiß, dass das praktisch unmöglich ist, zumal das Quintett regelmäßig seinen Sound weiterentwickelt, oft nur in Nuancen, aber das ist immer noch viel mehr als der Mut, den die übliche Indie-Konkurrenz aufzubringen vermag. Irgendwann wird es also soweit sein. Irgendwann werde ich eine ihrer Platten hören und werde enttäuscht sein. Die logische Folge: Von "Lost Loves" wollte ich zunächst auch nicht viel wissen, und erst als der Ploetzenhengst mit eifriger Vehemenz und einem Funkgurken-Dauerfeuer wieder und wieder von dieser Platte schwärmte, knickte ich ein. Glücklicherweise.

"Lost Loves" ist eine Zusammenstellung aus Songs, die in den Sessions für die vorangegangenen drei Studioalben entstanden, also für "Planet Of Ice", "Omni" und "Infinity Overhead", aber es nicht auf das jeweilige Werk schafften. Das klingt zunächst unspektakulär nach öder, beinahe ärgerlicher Resteverwertung, denn wer will schon den Krempel hören, der aus einem meist sehr validen Punkt nicht für das finale Album berücksichtigt wurde? Bei näherem Hinsehen relativiert sich jedoch die Sachlage: In den Liner Notes schreibt die Band, dass es in den Auswahlprozessen für ihre Alben in erster Linie um die Frage ging, wie sich die Songs in das jeweilige Albumkonzept einpassten. Und was sich, aus welchen Gründen auch immer - sei es Sound, Arrangement oder Text - nicht richtig anfühlte, wurde auf die Wartebank ge- und verschoben. 

Die Band verweist in diesem Zusammenhang freilich darauf, dass es sich bei den hier vertretenen Tracks mitnichten um B-Ware handelt - was ich mit hochoffizieller Freude bestätigen kann, denn "Lost Loves" ist erneut ein fantastisches Album geworden. Außerdem hat es ein eingebautes Quiz: einfach die Songs anhören und raten, für welche Platte sie ursprünglich geplant waren. 

Meine Erfolgsquote ist übrigens ganz gut.





Erschienen auf Dangerbird Records, 2014.