19.08.2017

3,40qm ist nicht tot, es riecht nur ein bisschen seltsam




Es ist einigermaßen skandalös, dass die von mir stets gefürchtete und mit allen legalen Mitteln bekämpfte Schreibblockade genau in jenem Jahr an die verquollene Gehirntür klopft, in dem dieser Blog sein zehnjähriges Jubiläum feiert und feiern sollte. "Feiern" ist möglicherweise ein zu großes Wort, aber eine Hausparty ist eine Hausparty ist eine Hausparty - und obwohl mir der Termin des ersten Posts auf diesem immer noch etwas ungelenk betitelten Tagebuchs seit Wochen und gar Monaten um den Kopfkalender flatterte, und ich also wie eine im Klärschlamm steckende Klobürste eine im Mirabellen-Pfefferminzkuchen steckende Geburtstagskerze am 22.7.2017 meine dreikommavier verbliebenen Leser mit Konfetti aus geschredderten Musikmagazinen aus dem Hause Springer und einem Gläschen Kirschlikör hätte begrüßen sollen, wenn nicht müssen, erschien jedes Aufraffen unmöglich. Ich möchte nicht mit der realen Irrelevanz von 3,40qm kokettieren, aber ich benötige wohl eher die Vorstellungskraft eines auf LSD hängengebliebenen Stabmixers (300 Watt!) in der Geisterbahn des Phantasialands, um mir ein außerhalb des engsten Dunstkreises des Autors bestehendes Interesse an diesem Geburtstag herbei zu halluzinieren. Andererseits ging (und geht) es diesem Blog darum ja gerade nicht - sonst wären Artikel über Justin Timberlake nicht unbedingt auf Lobhudeleien über obskure Thrash Metal Bands, ein paar Worte über vergessene Jazzperlen nicht auf Texte über aktuelle und in Miniauflagen veröffentlichte Ambientproduktionen gefolgt. Ich hätte wahrscheinlich nicht zwei Mal pro Woche Texte veröffentlicht, sondern eher zwei Mal am Tag - dann aber bitte der trillionste vom Waschzettel des Promoters abgeschriebene Scheißdreck über Mumford & Sons, fucking Kraftklub ("Who the fuck requested that?" - Bill Hicks, zugegebenermaßen über die Rückkehr von Diskomusik in den 80er Jahren, aber it's about the spirit), Gaslight Anthem, und natürlich über die Legion und wie Kackpilze aus einem von Kevin Russell vollgestrulltem Waldboden emporgeschossenen und als Punkrock getarnten deutschnationalen Lobotomie-Dreckhaufen wie Krawallbrüder, Kärbholz und Freiwild. Dass es die aktuelle Metalszene übrigens mittlerweile zulässt, eine zwar erfolgreiche, aber dennoch überaus ärgerliche Nullkapelle wie Arch Enemy auf einem Festival mit den erwähnten Tiroler Rechtsauslegern abzufeiern, spricht Bände. Über ähnliche unheilige Verbindungen habe ich hier bereits auch schon mal geschrieben. Soll ich es verlinken? Natürlich soll ich. 

Dass dieser Raum zehn Jahre und sage und schreibe siebenhundertzweiundachtzig (in Worten SIEBENHUNDERTZWEIUNDACHTZIG!) Beiträgen bestand, lag tatsächlich in erster Linie an der tief empfundenen (Selbst)Befriedigung, über Musik zu schreiben, die mich begeistert. Mich mit ihr auseinanderzusetzen, mich einzugraben, zu recherchieren, zu erklären, Freudenfeuer anzuzünden. Vor einigen Jahren wurde ins Kommentarfeld eines Artikels über den Pianisten und Bandleader Nik Bärtsch mal der Satz "Wo ein Begeisterter steht, ist der Gipfel der Welt" hineingeschrieben und ich empfand das als möglicherweise größtes Kompliment. Mehr in der Hand, im Kopf, in den Ohren und nicht zuletzt im Herzen zu haben, als das gehetzte Internet mit seinen grellen Blitzlichtern es für gewöhnlich zulässt. Und nicht zuletzt war es auch immer eine große Herausforderung, sprachlich und stilistisch auf einem wenigstens in Ansätzen erträglichen Niveau zu schreiben, Allgemeinplätze zu meiden, die schlimmsten Verbrechen "zeitnah", "extremst" und "massiv" draußen vor der Tür zu lassen - und im besten Fall selbst beim Lesen nicht wegzunicken. Die Herzallerliebste wies mich in den vergangenen zehn Jahren stets darauf hin, dass sich die gefürchteten über 20+ Zeilen erbrechenden Bandwurmsätze nicht dafür eignen, die Augen offen und das Hirn feucht zu halten, aber wer nicht kämpfen will, der hat eben verloren: der Mittelmäßigkeit keine Chance. Und doch stößt der Peinli-O-Meter beim Durchlesen so manch alten Textes stärker und schneller in den roten Bereich vor, als mir lieb sein kann. Aber so ist das vermutlich mit diesem "Älter werden", schließlich habe ich früher auch mal SPD gewählt, Shirts von Iron Maiden und eine "Nackenfotze" (Herr Pelleringhoff) getragen. Es ist tatsächlich wie bei den eigenen Musikaufnahmen über die letzten 20 Jahre: das hätte man alles besser machen können. Die Texte? Grundgütiger! Das Arrangement? Ein Autounfall! War ich beim Schreiben dieser Gesangslinie eigentlich stoned? "Does the pope shit in the woods?" (John Cleese). 

Außerdem half diese enge Auseinandersetzung mit Musik im Rahmen des Blogs dabei, im Überangebot von Musik den Boden nicht unter den eigenen Füßen zu verlieren. Wenn in einem guten Monat 20 neue Alben darauf warteten, nicht nur gehört, sondern auch noch verstanden zu werden - und was an einem solchen Monat "gut" war darf man auch nochmal in die Diskussionsrunde mit einem schweren Roten schmeißen - dann war das Schreiben über wenigstens derer zehn eine Art Therapie für die Entschleunigung, die eigene zumal. Keine Ablenkung, kein schreiendes Internet mit seinen Twitters, Instagrams, Emails, keine Gedanken an den ausreichend zugekackten Arbeitstag, sondern Konzentration: Nadel aufsetzen, Kopfhörer auf, in den Musiksessel plumpsen und schreiben. Das ist, nicht zuletzt wegen der notwendigen und zusätzlich anfallenden Recherche, aufwändig. Selbst ein vergleichsweise kurzer oder gar zunächst banal erscheinender Text ging mir selten einfach von der Hand. Auch hier gibt es Parallelen zum Musikmachen: unsere kleine Punkband, die sich nach Feierabend vorzugsweise ein- bis eineinhalb Minüter aus den Klamotten presst, die für den ein oder anderen Hörer vielleicht sogar so klingen, als seien sie in ebenjener Zeitspanne auch final erdacht worden, benötigt im Gegenteil bis zur Uraufführung eines solchen Titels auf der Bühne eines Opernsaals dieser Republik länger als die zwei braunen Gehirnzellen Björn "Heil" Höckes im führerhauptquartiergroßen und von gähnender Leere dominierten Brägen der faltigen Krawallschachtel, um sich beim Barte des GröFaz einen von den "Palmen" (Die Flippers, "Mitternacht In Trinidad") zu wedeln. Dazwischen: Zusammenbrüche, Selbstzweifel, Resignation, veganer Rollbraten, Trump (vulgo "Drumpf").

Wenn indes der Arbeitstag so zugekackt war, dass sich die Seele nachts um eins gerne nur noch in einem großen Glas Nutella versenken will, Musik nur noch als kurzfristig zu verabreichendes Analgetikum wirkt, und dazu die Mittel nicht mehr ganz moderner Kommunikation mit Hilfe des Wechsels von einem, Achtung, uffjepasst: Windows Phone (!) zum unvermeidbaren Android-Superscheiß den Blogger des letzten Jahrzehnts eher zu einem Instagrammer machen - bunte Bilder, die eigene Geilness streicheln und vor allem ja: streicheln lassen, Usability wie im Paradies, der direkte Kontakt mit anderen über die ganze Welt verteilt lebenden Gestörten - dann geht angesichts dieser Deppenkombination auf so einem Blog das Licht aus. Oder es wird zumindest dunkler. Dass es auf Tausenden Blogs in den letzen zehn Jahren gar stockfinster wurde, ist Fakt. 


Vielleicht ist dieser Post mehr als ein Grablicht. Es gibt viele gute Ideen, es gibt viele gute alte und neue Platten - "Also, jetzt sollte irgendwas kommen (Content!)"




Wie immer: Danke für's Lesen. Ganz in echt. 


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